Gäbe es einen Weltrekord im jobbedingten Treppensteigen, Münsters Türmer Wolfram Schulze dürfte zu den Anwärtern zählen: Wenn er im Dezember mit 70 Jahren in den verdienten Ruhestand geht, hat er in seinen 20 Dienstjahren rund 3,6 Millionen Treppenstufen erklommen. Denn sein Arbeitsplatz liegt in luftiger Höhe im Turm der Marktkirche St. Lamberti und ist nur über 300 Stufen einer steilen Wendeltreppe zu erreichen. Dafür darf der Angestellte von Münster Marketing das höchste Dienstzimmer der Stadtverwaltung sein eigen nennen mit dem wohl schönsten Blick über Münster.
Das achteckige Turmzimmer, 75 Meter hoch über dem Prinzipalmarkt, strahlt eher nüchternen Charakter aus: Ein Sofa, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein paar Bilder an der Wand, ein Radiator zum Heizen.
Von neun Uhr abends bis Mitternacht geht Schulze hier seiner Arbeit nach – außer dienstags, dann hat er seinen freien Abend. Alle halbe Stunde tritt er auf die schmale Balustrade, die rings um die Türmerstube führt und nichts für Menschen mit Höhenangst ist, und tutet mit seinem Horn in alle vier Himmelrichtungen. Das Horn, eine Replik aus dem Jahr 1949, gefertigt aus Kupfer und Messing, klingt ein wenig wie das Nebelhorn eines Schiffskutters. In klaren Nächten ist es bis an die Grenze der Altstadt zu hören.
So bekam Münster einen Türmer
1379 wurde erstmals ein Türmer in Münster erwähnt. Im Mittelalter hatte dieser eine Wächterfunktion und sollte mit seinem Horn nicht nur vor Bränden, sondern auch vor anrückenden Feinden warnen. Heute ist Wolfram Schulze einer der letzten Türmer Deutschlands und damit ein gefragter Interviewpartner für Journalisten aus der ganzen Welt, die sich zum Talk im Turm einfinden und seinen Geschichten lauschen: Wie er während des Sturms Kyrill die Schwankungen des Kirchturms spürte, wie er im Winter auf der Balustrade Schnee schippte oder wie er Brände aus seiner Vogelperspektive entdeckt und der Feuerwehr gemeldet hat.
Aber auch zur Stadtgeschichte kann Schulze viel erzählen. Immer wieder gefragt ist die Geschichte der Wiedertäufer. Die Köpfe der drei Anführer hängen als Gipsskulpturen in der Türmerstube, und wenn Schulze erzählt, wie sein Vorgänger anno dazumal im Kampf um Münster mit dem Schwert auf der steilen Wendeltreppe gegen die Soldaten des Bischofs gekämpft hat, ist das eine Geschichtsstunde der ganz besonderen Art.
Die Stelle ist nun neu ausgeschrieben, Interessierte können sich bis zum 25. Oktober beim Personalamt der Stadt bewerben. Das Anforderungsprofil ist nicht alltäglich: Kenntnisse der Stadtgeschichte und des Stadtlebens, souveränes Auftreten vor den Medien, eine gute körperliche Konstitution, Schwindelfreiheit und die Fähigkeit zum Alleinsein.
“Vor allem mit der Abgeschiedenheit hoch oben im Turm muss man umgehen können”, berichtet Wolfram Schulze nach 20 Jahren Diensterfahrung im Turm. Für ihn selbst war das kein Problem. Er hat sich in der Einsamkeit der Türmernächte durch die Weltliteratur geschmökert. Rund 1000 Bücher hat er in seiner Zeit auf dem Lambertikirchturm gelesen: von Homer bis Thomas Mann. Deshalb kommentiert er seinen Abschied vom Turm und den Start in den Ruhesand auch literarisch mit einem Zitat von Hermann Hesse: “Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.”